Lieber Hakan, Du schreibst tiefsinnige und politische Kurzgeschichten und arbeitest gerade an einem Roman. Von Deinen Kurzgeschichten weiß ich, dass Du dich sehr für die aktuellen Ereignisse in der Weltpolitik interessierst. Aus welcher Motivation heraus schreibst Du?
Ich glaube, dass der eigentliche Antrieb zu schreiben bei mir darin besteht, mich mit der Verlogenheit auseinander zu setzen, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Weltpolitik zieht. Um an dieser Stelle nur ein paar zu nennen: Europäische Länder betreiben weltweit Waffenhandel und verdienen am Tod und Leid anderer, können es aber gleichzeitig nicht lassen, von Menschenrechten und Demokratie zu sprechen. Muslimische Selbstmordattentäter bekämpfen den Westen, ihre Opfer sind jedoch überwiegend Menschen des eigenen Glaubens. Es werden Stellvertreterkriege geführt, deren Denker, Lenker und Profiteure stets im Hintergrund agieren. Die Gier nach endlichen Ressourcen bestimmt maßgeblich die Außenpolitik vieler Nationen, und Krieg ist immer noch die „Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln“ (Anm. d. Red.: Zitat von Clausewitz). Und wir erleben einen amerikanischen Präsidenten, der Friedensnobelpreisträger ist und dessen Land aktuell in zwei Kriege involviert ist. Diese und ähnliche Umstände sind für mich Grund genug zum Schreiben.
Du schreibst auch Artikel für Zeitungen sowie Zeitschriften. In Deinen letzten politischen Artikeln mit dem Titel „Erdoğan sieht die Revolution vor lauter Bäumen nicht“ und „Erdoğans absurdes Theater“ hast Du Dich kritisch zu den Ereignissen in der Türkei geäußert. Wie beurteilst Du die Entwicklungen bis heute?
Die Unruhen in der Türkei zeigten in aller Deutlichkeit, dass sich das Land von einem Extrem in ein anderes begibt. Ministerpräsident Erdoğan rühmt sich damit, dass seine Partei die Militärjunta in der Türkei ausgeschaltet hat. In Wahrheit hat er eine ihm feindlich gesinnte Militärelite durch einen ihm hörigen Polizeiapparat ersetzt. Die regierende Partei AKP hat in den elf Jahren ihrer Alleinherrschaft sowohl die Justiz als auch die Exekutive unterwandert. Die Anti-Terrorgesetze in der Türkei sind dehnbar und lassen sich von Staatsanwälten mit sogenannten „besonderen Befugnissen“ so auslegen, dass jeder Kritiker Erdoğans der Mitgliedschaft einer terroristischen Gruppe beschuldigt wird. Das ist ein Armutszeugnis für eine Regierung, die ihre Reformen als „fortgeschrittene“ Demokratie legitimiert. In der Türkei herrscht keine Pressefreiheit. Die meisten Medienkonzerne fürchten Repressionen seitens des Staates und ziehen eine einseitige Berichterstattung vor. Journalisten, die kritisch sind, verlieren auf Druck der Regierung ihre Arbeit oder Kolumne. Fernsehsender, die sich nicht einmal trauen politisches Kabarett auszustrahlen, sind für mich unmündig. Die momentane Situation in der Türkei erinnert mich an Bulgakows „Meister und Margarita“: Eines Tages taucht der Teufel mit seiner Gefolgschaft in Ankara auf und stiftet Unruhe. Nur nimmt die türkische Version kein glückliches Ende. Denn unser „Voland“ verhilft türkischen Künstlern nicht zu ihrem Glück.
Wird demnach der Widerstand gegen Erdoğan weitergehen oder waren die Proteste im Sommer bereits der Höhepunkt?
Die aktuellen Ereignisse auf dem Campus der ODTÜ-Universität in Ankara zeigen eindeutig, dass der Widerstand gegen Erdoğans Politik unvermindert weitergeht. Dort wehren sich Studenten gegen die Rodung einer Grünfläche, die sich auf dem Campus der Universität befindet und dem Ausbau eines Straßennetzes zum Opfer fallen soll. Wenn Erdoğan der Demokrat wäre, der er vorgibt zu sein, dann wäre er stolz auf diese jungen Menschen, die sich friedlich gegen diese Baumaßnahmen wehren und von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen. Und wenn er so tolerant wäre, wie er immer betont zu sein, dann wäre er auch stolz auf die vielen jungen Frauen seines Landes, die eine tragende Rolle in den Protesten spielen und den Männern in nichts nachstehen. Aber Erdoğan ist weder ein Demokrat, noch tolerant. Zeige mir den Status der Frauen in einer Gesellschaft und ich sage dir, wie fortgeschritten dieses Land ist. Mir imponiert die Willenskraft der Frauen auf den Barrikaden, und ich sehe darin die Entschlossenheit der Frauen, auch zukünftig für ihre Rechte einzustehen.
Wie gehst Du mit dem Begriff „Integration“ um?
Ich kann mich mit dem Wort nicht anfreunden. Für mich ist „Integration“ nur ein Schlagwort, an das sich politischen Parteien gerne kurz vor den Wahlen erinnern und es dann im Sinne ihrer Parteipropaganda missbrauchen. Der Wahlkampf für die Bundestagswahlen 2013 war die Ausnahme. Alle Parteien hielten sich diesmal zurück. Verwunderlich ist das aber nicht, denn wer will schon im Schatten der NSU-Morde über „Integrationsverweigerer“ herziehen. Im Übrigen ist Dank der Mainstream Medien das Wort „Integration“ negativ besetzt. Denkt man an Integration, dann assoziiert man nur Problemfälle: prügelnde Jugendliche, Arbeitslosigkeit, Schulabbruch und Kriminalität. Und schon ist die deutsche Volksseele erzürnt. Wer setzt denn eigentlich die Maßstäbe für eine gelungene Integration? Ist ein türkischstämmiger Fußballer, der für die deutsche Nationalmannschaft aufläuft ein Vorzeige-Integrierter? Oder ein türkischstämmiger Comedian, der gerne „Türkenwitze“ macht? Man wirft muslimischen Migranten vor, sich nicht integrieren zu wollen. Gleichzeitig spricht man von deutscher Leitkultur und versperrt sich gegen die doppelte Staatsbürgerschaft dieser Migrantengruppen. Ist das aufrichtig? Mölln, Solingen, Muslime unter Generalverdacht, Rasterfahndung, Sarrazin und die NSU-Morde! Die Integrationspolitik ist eine Totgeburt. Solange sich in den Köpfen der Politiker nichts regt, ist dieses halbherzige Integrationsprojekt zum Scheitern verurteilt.
Also gibt es einen latenten Rassismus in Deutschland?
Ja. Sarrazin hat ihn entlarvt. Auch wenn das mit Sicherheit nicht seine Absicht war. Wir wissen jetzt, dass ein großer Teil der deutschen Bevölkerung einen „angeborenen Schwachsinn“ durch kontinuierliche Inzucht bei muslimischen Migranten nicht ausschließt. Das hässliche Gesicht des latenten Rassismus wurde demaskiert! Das Buch wurde zum Bestseller und der Inhalt garantierte den Medien monatelange Schlagzeilen. Aber im Endeffekt hat Deutschland durch diese Debatte etwas sehr wichtiges verloren: Das Vertrauen der Migranten in die Aufrichtigkeit der deutschen Mitbürger. Die Bildung oder die Parteizugehörigkeit des deutschen Nachbarn oder Arbeitskollegen spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Beide Faktoren schließen nicht aus, dass man empfänglich ist für solche sozialdarwinistischen Ansichten, die eindeutig Resultate rassistischer Gesinnungen sind. Am besten man hätte Sarrazin eine Schieblehre geschenkt. Dann hätte er seine Theorien wie im Dritten Reich mit der Vermessung von Schädeln untermauern können.
Was meinst Du, wie wichtig ist die Literatur für eine friedliche Koexistenz in Deutschland?
Sehr wichtig. Die Literatur kann Menschen unterschiedlichster Kulturen zusammenführen. Sie dient als Sprachrohr und bietet eine Plattform für den Austausch von Meinungen. Wünsche, Ängste und Gedanken können frei und kreativ ausgedrückt werden. Meiner Meinung nach kann die Kunst das erreichen, was die Politik bis dato nicht geschafft hat. Literatur sowie Theaterstücke können zu mehr Toleranz und Verständnis führen. Wir brauchen erst gar nicht in der Ferne zu suchen; nehmen wir zum Beispiel deine Gedichte: Westliche Dichtung gepaart mit orientalischer Symbolik. Deinen Versen gelingt die so wichtige Symbiose der Kulturen, die der Politik seit Jahrzehnten schwerfällt. Man liest die Werke fremdsprachigerSchriftsteller und es eröffnen sich dem Leser Erkenntnisse über Themen und Probleme, die man sonst nur beiläufig oder erst gar nicht wahrnimmt. Die Literatur schlägt Brücken zwischen den Kulturen und steigert die Fähigkeit zur Empathie. Man sollte sich glücklich schätzen, dass sich in diesem Land eine lebendige Literaturszene der Migranten entwickelt hat. Jeder Einfluss und sei er noch so fremdländisch ist eine Bereicherung für die Literatur eines jeden Landes.
Dürfen wir auch ein kurzes Statement zu Edward Snowden haben, der mit seinen Enthüllungen eine internationale Überwachungs- und Spionageaffäre auslöste und kurz darauf wieder in Vergessenheit geriet?
Ich schäme mich für jedes demokratische Land, das auf Druck der USA den Asylantrag von Snowden abgelehnt hat, obwohl dieser Mann die dunklen Machenschaften amerikanischer Geheimdienste aufdeckte und sein Leben für eine transparentere Welt riskiert hat.
In deiner Geschichte, von der eine Leseprobe auf unserer Website steht, beschreibst Du das mögliche Szenario eines Militärschlags der USA gegen den Iran. Glaubst Du, dass dieses Szenario in naher Zukunft eintreffen könnte?
Während ich schrieb, habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Wer ist eigentlich an einem dauerhaften Frieden im Orient interessiert? Keiner! Für Russland, China und Europa sind Kriege und die damit verbundenen Aufträge an die Rüstungsindustrie ein profitables Geschäft. Die Amerikaner wollen die Karten im Orient neu mischen und den Wettkampf um die Ressourcen für sich entscheiden. Israel und die Wahhabiten in Saudi Arabien stufen eine schiitische Regionalmacht wie den Iran als Bedrohung ein. Diese Tatsachen sprechen leider nicht für eine friedliche Lösung des Konflikts. Von allen Seiten wird Propaganda betrieben. Es wird taktiert, diplomatische Verhandlungen verlaufen im Sande und begleitet wird das ganze Theater von einem permanenten Säbelrasseln aller Parteien. Dieses absurde Szenario habe ich dann in meiner Geschichte beschrieben. Ich hoffe, dass die Vernunft siegen wird, aber die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen eindeutig, dass früher oder später jeder Konflikt im Orient in einen Krieg mündet. Das ist leider die traurige Realität.
Sollten Schriftsteller politisch interessiert sein?
Zumindest sollten sie empfänglich sein für Veränderungen, die den Menschen direkt betreffen. Und die Politik bewirkt solche Veränderungen. Sei es nun Expansion oder Rezession, Krieg oder Frieden, all das hat Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Und wir wären keine glaubwürdigen Schriftsteller, wenn uns diese Dinge kalt ließen.
Du hast zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften sowie Anthologien. Wann können wir mit Deinem Debüt rechnen?
Ich habe ein Manuskript mit Kurzgeschichten abgeschlossen und arbeite momentan an einem Roman, der mir am Herzen liegt. Meine gesamte Kraft und Energie gilt jetzt diesem Projekt. Erst nach Beenden des Romans werde ich mit der Verlagsbeschickung anfangen.
Wirst Du der nächste Vorzeigetürke in der deutschsprachigen Literaturlandschaft?
Ich denke, dass ich für diesen Job nicht geeignet bin. Da gibt es sicherlich andere Kandidaten, die prädestinierter sind.
Wie kommt es, dass Du deine Muttersprache so gut sprichst, denn das ist eher unüblich für die in Deutschland geborenen Kinder und Enkelkinder der sogenannten "Gastarbeiter"?
Nun, ich bin ein Türke und schätze die türkische Sprache und Kultur sehr. Ich mag die Intensität und die Lebendigkeit dieser Sprache. Ich verehre die türkische Literatur, insbesondere die Lyrik, die ich leider erst spät für mich entdeckt habe. Um die Frage zu beantworten: ich habe sehr früh Bücher in meiner Muttersprache gelesen. Mein erstes türkischsprachiges Buch war die Übersetzung von Peter Pan. Von da an las ich kontinuierlich weiter. Außerdem ist die türkische Sprache das einzige Medium, mit dem ich Zugang zur Gedankenwelt meiner Eltern habe. Ich denke das sind die Gründe, warum mein Türkisch nicht verkümmerte.
Du arbeitest auch als literarischer Übersetzer. Was ist das Wichtigste bzw. Schwierigste an der Übersetzerarbeit?
Übersetzungen sind generell das Schwierigste, das ich im Bereich der Literatur gemacht habe. Das Wichtigste ist das Recherchieren und sich in die Gedankenwelt des Verfassers hinein zu versetzen. Das Schwierigste ist es, so nah wie nur möglich am Originaltext zu bleiben. Ich hege den größten Respekt für Literaturübersetzer.
Was machst Du gegen Schreibblockaden?
Ich lasse den Text ruhen und verschwende in dieser Phase keinen Gedanken an das Schreiben. Es ist kontraproduktiv sich unter Druck zu setzen. Ich beschäftige mich dann lieber mit alltäglichen Dingen oder fokussiere mich nur auf das Privatleben. Glücklicherweise hatte ich bisher keine Schreibblockade über einen längeren Zeitraum.
Was am Schreiben fällt Dir am Schwierigsten?
Das Abschalten. Wenn man sich den ganzen Tag in einer konstruierten Realität aufhält, dann ist es schwierig diese am Abend wieder zu verlassen. Es ist wichtig, dass man Menschen um sich hat, die einen quasi wieder zurück zu Erde holen.
Und nun, meine letzte Frage an Dich: Wenn man Dich auf eine einsame Insel verbannen würde, wäre die eine Sache, die Du nicht mitnehmen würdest, was?
Den Knigge.
Ich bedanke mich für das Interview!
Das Interview führte Safiye Can im November 2013.